Die ersten Minuten eines Arbeitstages sind wie die Idee, von einer zehn Meter hohen Steinklippe in ein trübes Wasserloch zu springen. Könnte man machen. Geht später aber auch noch.
An einem karibischen Wintertag vor einigen Jahren stand ich an einem Hang auf Jamaika. Ich war in den Stunden zuvor verschiedene Klippen hinabgesprungen, immer ins nächste Wasserloch und immer tiefer durch den Dschungel bis ins Tal. Jamaika ist eine grüne Insel, Vögel zwitschern, das Wasser rauscht mit Kraft ins Tal. Paradies? Das muss es sein. Tief unter mir öffnete sich ein großer natürlicher Pool, türkisfarbenes Wasser im Zwielicht. Hübsch. Aber da runter?
„Nicht nachdenken“, sagte einer der Einheimischen. „Wenn du nachdenkst, springst du nie.“
Ich wandte den Kopf.
Sah ihn an.
Sah nach unten.
Und trat zurück.
Ich bin doch nicht bescheuert und springe da runter.
Ich trage keinen Selbstverstümmelungsdrang in mir, bin wenig risikofreudig. Körperliche Unversehrtheit halte ich für ein hohes Gut. Und ich kenne die Folgen von Rückenverletzungen, weil sie mich als Journalistin lange beschäftigt haben. Mir aus Abenteuerlust einen Wirbel brechen steht ganz unten auf meiner Spaß-Liste. Andererseits werden die doch wohl wissen, wo sie mich runterschicken? Den ganzen Vormittag über habe ich mich nirgends gestoßen, nirgends auch nur den Grund eines Sees berührt. Mitten in diesen Grübeleien fiel mir etwas auf: Ich hatte schon bei meiner Ankunft entschieden, zu springen. Ich schob es nur vor mir her.
Ich sprang.
Genau diese Entscheidung treffen wir jeden Morgen. Und wir machen sie uns schwer. Motivation soll uns das Fortkommen in diesem unerwartet anstrengenden Erwachsenenleben erleichtern. Jeder sagt uns, dass wir sie finden sollen. Jeder kann uns sagen, was wir falsch machen, wenn wir nichts machen.
Aber absurderweise fragt niemand nach der Alternative, als wäre Motivation der einzig denkbare Treibstoff jedes noch so kleinen Erfolgs.
Disziplin kann diese Alternative zur Motivation sein. Sie ist derzeit ein eher unbeliebtes Konzept. Disziplin klingt anstrengend, als müssten wir zu all den Aufgaben jetzt auch noch unser Leben im Griff haben. Plottwist: Eine liebevolle Form der (Selbst-)Disziplin schenkt uns Zeit und Energie. Und zwar zur freien Verfügung. In diesem Whitepaper geht es um eine Disziplin, die dem Leben dient.
Isabell
In diesem Whitepaper
Diese Ausgabe ist für Pro-Mitglieder. Sie erscheint einmal im Monat. Für alle Gratis-Mitglieder erzählt
in der kommenden Woche, wie sie kreative Prozesse organisiert. Private Fotos haben wir auch reingepackt.Wenn du auf Pro neugierig bist, aber noch kein Abo hast, dann schau mal hier.
Darum geht es in diesem Monat:
Liebevolle Disziplin
Disziplin als Kampf: Wir haben das Gegenteil dessen gelernt, was wir
fürs Leben brauchen.Das große Missverständnis von Lust und Motivation
Zuverlässigkeit: Nein, sorry. Du bist nicht so verlässlich, wie du dir einredest
Muskeltraining 1: Verlässlichkeit
Muskeltraining 2 Disziplin
Disziplin = Planung + (selbst-)Vertrauen: So umgehst du innere Widerstände
Vorschau: Schlaf & Arbeit. Was schadet, was guttut, was hilft.